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PROGRAMMHEFT

Orlando

nach Virginia Woolf
Deutsch von Karl Lerbs
Dauer: ca. 1 Std. 30 Min
In deutscher und englischer Sprache

Mit Schauspieler*innen des Ensembles und Tänzer*innen des Ballet of Difference
Premiere: 02 Okt 2021
»Kommt zu mir«,
sagt der Vogel,
»und fragt mich,
was ›das Leben‹ ist.«

INHALTSVERZEICHNIS

ZUM STÜCK

1928 veröffentlicht die britische Schriftstellerin Virginia Woolf ihren Roman ORLANDO – EINE BIOGRAFIE und sprengt darin all jene Normen, die sich um die Themen Männlichkeiten und Weiblichkeiten in der Gesellschaft ihrer Zeit etabliert hatten.
Die Geschichte beginnt am englischen Königshof des 16. Jahrhunderts, in dem die titelgebende Hauptfigur als Günstling von Elisabeth I. ein privilegiertes Leben führt. Als die Liebe über ihn hereinbricht, wird eine fulminante Zeitreise in Gang gesetzt, in deren Verlauf Orlando während der Kleinen Eiszeit auf der zugefrorenen Themse herumknutscht, vor einer hartnäckigen Verehrerin in das politisch unruhige Konstantinopel flüchtet, in einen mehrtägigen Schlaf verfällt − und an dessen Ende er plötzlich als junge Frau erwacht. »Lady« Orlando wundert sich wenig über die Transformation, verlässt Konstantinopel heimlich und setzt die ereignisvolle Reise durch die Epochen fort.
Aus dem 16. Jahrhundert erstreckt sich Virginia Woolfs Erzählung bis in die Gegenwart der Autorin und sogar einige Tage darüber hinaus. Immer im Blick: Der Wandel der Rolle der »Frau« und des »Mannes« im Wandel der Zeit.
Als Kooperation zwischen Schauspiel und Ballet of Difference bringt Lucia Bihler den Roman nun mit Schauspieler*innen und Tänzer*innen beider Ensembles auf die Bühne. Gemeinsam stürzen sie sich in das binäre Geschlechtersystem, um eine neue Perspektive in der Verschmelzung von Tanz, Schauspiel und Performance zu erschaffen.
»Oft sind es nur die Kleider, die einen Menschen weiterhin als Mann oder als Frau erscheinen lassen, während darunter ein der Außenwelt durchaus entgegengesetztes Geschlecht sich birgt. Ob Orlando mehr Mann oder Frau war, ist schwer zu sagen und kann an dieser Stelle nicht entschieden werden.«

ZUR AUTORIN

Virginia Woolf (1882-1941)

»Eine Biographie wird erst als vollständig angesehen, wenn sie über circa sechs oder sieben Selbste Bericht gibt, während ein Mensch auch Tausende davon haben kann.«
Virginia Woolf in »ORLANDO«
Im April 1939 erwähnt Vanessa Bell, Virgina Woolfs Schwester, dass es für diese doch langsam an der Zeit sei, ihre Memoiren zu verfassen. Was im Folgenden bis kurz vor Virginia Woolfs Suizid 1941 entsteht ist vielmehr eine Skizze, eine Ansammlung von prägenden Momenten. (SKETCHES OF THE PAST) Sie beschreibt das Leben hier als eine Schale, die man mit Erinnerungen füllt und füllt und füllt.
1882 als Adeline Virgina Stephen in London in eine wohlhabende, intellektuelle Familie geboren, wird sie zumindest heutzutage als Vieles erinnert: Als schon zu Lebzeiten international bekannte Schriftstellerin. Als eine der bedeutendsten Autorinnen der klassischen Moderne, als Verlegerin, als Manisch-Depressive, als Ehefrau, als Snob, als Geliebte von Schriftstellerin Vita-Sackville West oder – post mortem – als Ikone der Frauenbewegung.
In ihren biografischen Skizzen gibt sie naturgemäß einen persönlicheren Eindruck und teilt ihre einprägsamsten Erinnerungen: »Das Betasten der roten Blumen auf Mutters Kleid. Ein alter Baum im elterlichen Garten. Und die plötzliche Erkenntnis: Ich bin sterblich.«
Diese plötzliche Erkenntnis, die sie auch »Schock« nennt, ereilt sie im Laufe ihres Lebens immer in Situationen, in denen sie sich ganz in der Gegenwart befinden. Und werden zum Motor ihres Schreibens.

WORDS FAIL ME

»Wörter, englische Wörter, sind voller Echos, Erinnerungen, Assoziationen. Sie sind in der Welt unterwegs, auf den Lippen der Menschen, in ihren Häusern, auf den Straßen, auf den Feldern – seit so vielen Jahrhunderten. Wörter hassen es, nützlich zu sein; sie hassen es, Geld zu verdienen; sie hassen es, öffentlich gelehrt zu werden. Kurz gesagt, sie hassen alles, was ihnen eine Bedeutung verleiht oder sie auf eine Haltung beschränkt, denn es ist ihre Natur, sich zu ändern. Das ist vielleicht ihre auffälligste Besonderheit – ihr Bedürfnis nach Veränderung.«

Dies verliest Virginia Woolf sinngemäß, obgleich sehr viel poetischer auf der vermutlich einzig verbliebenden Tonaufnahme ihrer Stimme im BBC Radio 1937. In der Reihe WORDS FAIL ME reflektieren Schriftsteller*innen ihrer Zeit über den Prozess des Schreibens, ihre Ansichten zur englischen Sprache und ihren Antrieb als Autor*innen. Acht Minuten ist die Tonaufnahme insgesamt und vollständig transkribiert auf englischer Sprache hier zu finden: The only surviving recording of Virginia Woolf – BBC Culture https://www.bbc.com/culture/article/20160324-the-only-surviving-recording-of-virginia-woolf

In dem oben zitierten Absatz wird ein Kernthema aus Virginias Woolfs ORLANDO aufgegriffen: Die beständig und immer stattfindende Veränderung. So wie Sprache sich verändert, durch die Menschen, die sie benutzen, durch die Kontexte, in welchen sie platziert werden und die Erfahrungen der Sprechenden, so verändern sich auch die Annahmen und Auffassungen der Angesprochenen.
ORLANDO trägt im Titel den Zusatz »Eine Biographie« und neben der titelgebenden Hauptfigur steht eine weitere (geschlechtslose) Person im Fokus der Erzählung: Der Biograph, der bei Woolf ausschließlich im Pluralis Majestatis auftritt.
Durch die Brille des Schreibenden erfolgt eine permanente Einordnung Orlandos. Sie gibt den Lesenden vor, an welchem Punkt seines Lebens Orlando sich befindet, wie er aussieht, was ihn beschäftigt, in welchem Gender wir uns Orlando vorstellen sollen. Satirisch pointiert zeichnet Woolf einen Biographen, der penibel und akkurat darstellen möchte, was sich tatsächlich zugetragen hat, der Beschreibende bezieht sich auf Akten, Dokumente und gibt offenherzig zu, wann ausschließlich die Fantasie genutzt wurde, um Orlandos Lebensweg nachzuvollziehen. Er bezeugt die Existenz Orlandos und will sie den Leser*innen nüchtern nahebringen, sodass ein eigenes Urteil gefällt werden kann.
Immanent in der Beschreibung immer: Die Rolle von Wörtern und Sprache als unabgeschlossenes, nicht ausreichendes System: »Grün in der Natur und Grün in der Literatur sind zwei verschiedene Dinge. Natur und Literatur sind anscheinend von gegenseitiger Abneigung erfüllt.«

Wörter – so könnte die überspitzte These lauten – reichen nicht, um ein Leben greifbar zu machen.
Hier greift in Lucia Bihlers Inszenierung die Sprache des Körpers. Ist diese universeller? Welche Möglichkeiten ergeben sich ohne Worte, Welten darzustellen, Beziehungen einzugehen, Beziehungen aufzulösen, die Conditio Humana erlebbar zu machen?
Die Descartessche Trennung von Körper und Geist, die bei einigen Philosoph*innen auch die Trennlinie zwischen Frau und Mann bedeutete, wird hier sinnlich unter die Lupe genommen und strapaziert. Wie der Körper beweglich und ständig im Wandel ist, so ist es auch der Geist. Am Ende steht die fluide Einheit.
Commissioned by BBC Culture and BBC Britain, Directed by Phoebe Halstead, Animated by Barry Evans and Letty Fox, Sound by Ben Vince
»Was die Zukunft bringen mochte, wußte der Himmel. Die Wandlungen dauerten unablässig an, und die Wandlungen würden vielleicht niemals aufhören.«

THE SEXUAL CONTINUUM


Spätestens als Conchita Wurst 2014 mit ihrem Lied RISE LIKE A PHOENIX den Eurovision Song Contest in Kopenhagen gewann, kam ein Gender Diskurs auch bei den Mainstream Medien und einen Großteil der Bevölkerung an.
Die einen sahen eine »Frau mit Bart«, die anderen einen »Mann mit Kleid«. Beide Einordnungen greifen zu kurz und stellen dar, wie sehr die westlichen Welt in der Idee der strikten Trennung von »Mann« und »Frau« beharrt. »Gender-Fluid«, »Non-Gender«, »Queer« sind nur einige Buzzwords unserer Zeit, die verdeutlichen, dass der Themenkomplex durchaus differenzierter zu Betrachten und die Sprache sich diesem Fakt nach und nach annähert.

Schon in den 1940er-Jahren untersuchte Sexualforscher Alfred Charles Kinsey mit seiner Kinsey-Skala zumindest die Flexibilität des Menschen in Hinblick auf sexuelle Orientierung: Hier gab es erstmals in größerem Umfang Zahlen all derer, die sich nicht als rein heterosexuell oder homosexuell beschrieben, sondern sich auch irgendwo auf dem Spektrum dazwischen befanden. Gleiches, nämlich ein Wandern bei der Einordnung auf einer Skala, die an der einen Seite »Frau« und auf der anderen Seite »Mann« heißen könnte, findet auch in Bezug auf Gender-Identität vieler Menschen statt. Wichtig wäre, die Begriffe Weiblichkeiten und Männlichkeiten weiterhin zu prägen, um zu verdeutlichen, dass es nicht das eine oder andere »korrekte« Frau*- oder Mann*- Sein gibt.

In ORLANDO macht die Hauptfigur, die als Frau* und als Mann* England durch die Zeit bereist eine schöne Entdeckung: »Die Freuden des Lebens waren vermehrt und seine Erlebnisse vervielfacht. Orlando wechselte ab zwischen der Aufrichtigkeit der Kniehosen und der Verführungskraft der Röcke und erfreute sich gleichermaßen der Liebe beider Geschlechter.«

Ihr gelingt mit dem Spiel der dominierenden Geschlechterkategorien eine Befreiung, ein zu sich selbst finden. Durch das Wandern auf dem Sexuellen Kontinuum, wandelt sich ihr Selbst stetig und verwehrt sich den Schubladen, in die es gepresst werden soll. Auch aus heutiger Sicht eine Utopie, die zum Freisein einlädt.

Weiterführende Informationen zum Thema:

Dokumentation aus der ARD-Mediathek:
SEX UND IDENTITÄT - EINE DIVERSE GESCHICHTE

Team

CHOREOGRAFIE: Lucia Bihler & Ensemble
Bühne & Video: WOLFGANG MENARDI
Kostüm: Andy Besuch
KOMPOSITION & SOUNDDESIGN: JACOB SUSKE • der Track »ORLANDO« wurde komponiert von Planningtorock
INSZENATORISCHE UND CHOREOGRAFISCHE MITARBEIT: Mats Süthoff
Licht: JÜRGEN KAPITEIN
DRAMATURGIE: Sarah Lorenz
»I AM ALONE«

Impressum

Die Texte »Zum Stück«, »Zur Autorin«, »Words fail me« und »The sexual continuum« wurden für dieses digitale Programmheft von Sarah Lorenz zusammengestellt.

Förder*innen

Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspiel Köln wird gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit dem NRWKULTURsekretariat, durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München und die Kunststiftung NRW.