digitales
PROGRAMMHEFT

Im Anfang
war der Zaun

EINE PERFORMATIVE KARTOGRAFIE GEGENWÄRTIGER MAUERN
Von what about: fuego
Uraufführung: 01. September 2023
Tommy Hetzel

INHALTSVERZEICHNIS

Zum Stück & Making of

Über dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer leben wir in einer vernetzten, globalisierten Welt, in der Reise- und Handelsfreiheit großgeschrieben werden. Zugleich nimmt der Bau von Mauern und Grenzanlagen weltweit zu. Die Liste der Länder und Orte, die sich aktuell durch Mauern und Sicherheitszäune abzugrenzen versuchen, ist lang. Mauern inszenieren politische Souveränität und nationalstaatliche Einheit. Sie demonstrieren Sicherheit und Schutz für die Bevölkerung. Doch zugleich fördern und reproduzieren sie Ausbeutung, Entmachtung und Enteignung. Beim Versuch, Grenzen zu überwinden, verlieren täglich tausende Menschen ihr Leben. Vielerorts werden Agrarland und Obstgärten zerteilt, Transportrouten unterbrochen, ganze Stadtviertel sind mit einem komplexen Netz an Trennlinien durchzogen und bestimmen die Realitäten der dort lebenden Menschen.
Making Of »IM ANFANG WAR DER ZAUN«
Stream Aktivieren

Interview mit Wendy Brown

Obwohl der Bau von Mauern und Befestigungsanlagen einer längst vergangenen Zeit anzugehören scheint, ist in den vergangenen Jahrzehnten weltweit eine Konjunktur fortifizierter Grenzen festzustellen. Über 70 zeitgenössische Mauern zählen Demograph*innen heute. Was bewegt Staaten dazu, in unserer globalisierten und digital vernetzten Welt Mauern zu errichten?
Mit dieser Frage hat sich die US-amerikanische Politologin Wendy Brown in ihrem Buch MAUERN. DIE NEUE ABSCHOTTUNG UND DER NIEDERGANG DER SOUVERÄNITÄT beschäftigt.
Das Gespräch mit Wendy Brown führten die Dramaturgin Stawrula Panagiotaki und die Autorin Miriam Bini Schmidt.
Die Erstausgabe Ihres Buches ist 2010 erschienen, eine Neuauflage 2017.
Was war in der Zwischenzeit geschehen?
Wendy Brown: Was in der amerikanischen Politik vorher sehr im Hintergrund stand – die Migration aus dem gesamten südamerikanischen Kontinent – wurde 2016 plötzlich zum politischen Thema bei der alptraumhaften Wahl von Donald Trump, der seine Kampagne damit führte, eine Mauer zu bauen. Doch tatsächlich hatten wir schon eine Mauer, denn einige Grenzbefestigungen waren bereits vorhanden. Trumps theatraler Schachzug bestand nun darin, so zu tun, als ob er und die Partei unter seiner Führung, sich mit dem Schutz weißer Amerikaner*innen vor einer aus dem Süden kommenden »Flut brauner Menschen«identifizieren würden.
In diesem Zeitraum überschnitten sich auch zwei Krisen in Europa: Die Haushaltskrise und die Krise, die in den Mainstream-Nachrichten als »Migrantenkrise« bezeichnet wurde. Die Frage, wie mit der enormen Anzahl von Menschen umzugehen ist, die aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten kommen, rückte in den Mittelpunkt der europäischen Politik. Sie war der Auslöser für den Brexit und sorgte für enorme Spannungen zwischen Nord- und Südeuropa und zwischen denjenigen, die der Meinung waren, dass Europa der Migration und den Migrant*innen offene Türen schulde, und denjenigen, die wollten, dass die Türen geschlossen werden. Ähnlich wie in den USA, drehten sich viele politische Kampagnen und der Aufstieg der politischen Rechten um die Fragen, ob die »Festung Europa« gestärkt oder umgestaltet, und ob Europa zusammenbleiben oder zerbrechen würde.
Der letzte Punkt hat mit dem Wandel in Osteuropa beim Bau von Mauern zu tun, beispielsweise in Ungarn oder Polen, denn dort soll Migration nicht gestoppt, sondern lediglich umgeleitet werden. Die Migrant*innen sollten nicht in die jeweiligen Länder kommen, die diese Barrikaden errichtet hatten. Die »Migrationsströme« wurden so verändert, dass das Dublin-Abkommen nicht greift, wonach Migrant*innen das Recht haben, in dem Land, in das sie einreisen, als Asylbewerber*innen anerkannt zu werden. Migration hatte natürlich auch einen enormen Einfluss auf die Verhandlungen über neue EU-Beitrittskandidaten, hier vor allem auf die Türkei. Zwischen dem Zeitpunkt des Verfassens des Buches und dem Zeitpunkt, an dem ich das Vorwort der Neuauflage schrieb, wurde die Idee, dass Mauern eine politische und theatrale Dimension haben, offensichtlich.
Was meinen Sie mit »theatraler Dimension«?
Was ist das Besondere an den vielen Mauern, die heute errichtet werden? Sie sind ebenso sehr Ausdruck einer schwindenden souveränen Macht, die durch die Globalisierung oder andere Kräfte weggespült wird, wie sie Ausdruck der Fähigkeit sind, ein Außen abzuwehren. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Die Grenzbarrikade zwischen den USA und Mexiko hat weder Migrant*innen, noch irgendetwas anderes, das die Mauer angeblich aufhalten soll, tatsächlich aufgehalten. Was wir stattdessen sehen, ist die Mauer als eine Art theatrale Markierung, ein symbolischer Ausdruck einer souveränen Macht, des souveränen Staates USA, der erklärt, wo seine Grenzen sind und was durch sie hindurch darf.
Das ist ein wichtiges politisches Organisations- oder Mobilisierungsinstrument, aber es ist nicht wirklich effektiv, wenn es darum geht, die Ströme von Menschen, Waren, Waffen, Drogen, Ideen und transnationalen politischen Formationen zu unterbinden oder zu stoppen. In Europa kann man sehen, wie diese Mauern manchmal den Fluss dieser Dinge verändern. Aber sie halten sie nicht wirklich auf. Es ist also wichtig, dass wir die heutigen Grenzbefestigungen und Mauern als eine politische Antwort auf die Globalisierung verstehen. Dabei geht es hauptsächlich darum, eine reaktionäre Kräfte in der Bevölkerung zu mobilisieren. Die Mauern selbst sind selten wirksam.
Eine weitere Sache ist: Selbst wenn sie politisch nicht sonderlich wirksam sind, haben sie eine todbringende Wirkung, da sie den Migrant*innen schwierigere und gefährlichere Routen aufzwingen. Sie führen auch zur Kriminalisierung grenzüberschreitender Aktivitäten. Grenzbefestigungen befördern das Entstehen sehr leistungsfähiger Schmuggelindustrien. Und diese Industrien reichen bis tief in die Nationen der ganzen Welt hinein. Sie sind keineswegs nur auf das Grenzgebiet beschränkt. Diese Grenzübergänge und das, was wir als paramilitarisierte Grenzorganisationen bezeichnen könnten, führen wiederum zu Vigilantismus, d.h. zu selbsternannten Bürgerwehr-Gruppen, die die Grenzen überwachen. Was die Grenzbefestigungen heute also vor allem bewirken, ist eine Verschärfung von Kriminalisierung, Tod und Zerstörung. Ebenso könnten wir feststellen, dass Mauern zwar das menschliche und ökologische Elend an Grenzen vergrößern, aber keine tatsächlichen politischen Lösungen für die Probleme anbieten, die Grenzen mit sich bringen.
Zäune und Mauern hat es schon immer gegeben, zumindest seit der Mensch sesshaft geworden ist.
Wie würden Sie diese Kontinuität beschreiben?
Es ist wichtig zu verstehen, dass die menschliche Spezies die Tendenz dazu hat, ihre Herrschaft zu markieren. Es muss keine Markierung sein, die besagt: »Außenstehende dürfen nicht eintreten.« Es muss kein Tor oder eine Mauer sein. Es kann auch einfach eine Linie sein. Wir sehen das bei indigenen Kulturen. Wir sehen das bei Kindern. Wir sehen das bei modernen Gemeinschaften, die einfach nur feststellen möchten: »Das sind wir. Hier leben wir. Das ist unsere Abgrenzung.« Und die Abgrenzung als solche ist gar nicht so problematisch. Sie ergibt sogar Sinn. Das ist etwas, das jede*r erlebt, der oder die schon mal zelten war: »Das ist mein kleiner Zeltplatz. Es ist mein Gebiet oder mein Herrschaftsbereich, in dem ich herausfinde, wie ich leben kann und vielleicht auch, wie ich das Leben mit anderen teilen kann.«
Mauern und Zäune sind dagegen in der Regel eine Abgrenzung von Außen und Innen, die damit zu tun hat, Außenstehende abzuwehren. Und ich denke, um auf der sehr allgemeinen Ebene zu bleiben, können wir das bei Mauern oder Zäunen um Häuser, aber auch bei alten Mauern in mittelalterlichen europäischen Städten usw. wiedererkennen, denn sie sind Abgrenzungen eines Innen und eines Außen, die dem Innen gewissermaßen auch das Recht geben, das Außen abzuwehren.
Welche Auswirkungen haben Mauern auf die Gesellschaften, die diese Mauern errichten?
Das ist ein zentraler Punkt. Wenn man eine Mauer errichtet, verändert sich die Subjektivität, die Erfahrung, wer man ist und wo man lebt. Der Bau von Mauern wird oft als Problemlösung gesehen und nicht als Schaffung einer völlig neuen, bürgerlichen Subjektivität. Und das kann man sicherlich an der Trennmauer sehen – wie sie in Israel und im Westjordanland genannt wird – dem Bau dieser riesigen Mauer, die die Subjektivität von Israelis und Palästinenser*innen gleichermaßen verändert hat. Nicht ohne dass auch noch andere Dinge geschehen sind. Aber diese Mauer ist viel mehr als nur eine Sicherheitsbarrikade. Sie ist Brandstiftung. Und das »wir« lebt innerhalb eines ummauerten Staates, in dem das »sie« mehr und mehr ein fremdes, gefährliches, aggressives, nicht-menschliches Anderes ist.
Sie haben vorhin den Begriff der Souveränität erwähnt.
Können Sie diesen im Zusammenhang mit staatlichem Mauerbau erläutern?
Vielleicht kann man sich dieser Frage am besten nähern, wenn man an die vielen westlichen, liberalen Erwartungen denkt, die mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 einhergingen. Dieses Ereignis fiel in eine Zeit der neoliberalen Globalisierung, in der viele sagten, dass wir uns auf ein globales Dorf zubewegen. Unser Ziel sei eine große vernetzte Welt, in der es keine Mauern mehr gebe. Und dann kam diese enorme Welle des Mauerbaus. Das ist eine Reaktion auf den Verlust von Souveränität.
Was bedeutet das? Der Westfälische Friede, der das System der Nationalstaaten in der Moderne begründete, basierte auf der Idee souveräner Nationalstaaten, welche nicht nur ihre Grenzen, sondern auch ihre Politik, ihre Kultur, ihre Lebensweise kontrollieren. Ein souveräner Nationalstaat war ein Staat, in dem eine Form absoluter Macht die Existenzbedingungen innerhalb der Nation bestimmte, gegen die kein anderes Volk, keine andere Kraft oder Nation etwas unternehmen konnte.
Wenn sich die Globalisierung bewahrheitet hätte, wären das Kapital, die Arbeit, die Ideen und die Religionen nun jenseits der Nationalstaaten und würden ohne Bezug zu ihnen durch die Welt fließen. Die Ära der souveränen Nationalstaaten wäre dann vorbei gewesen. In gewisser Weise möchte ich behaupten, dass wir uns gerade in einer Art Interregnum zwischen souveränen Nationalstaaten und dem, was danach kommt, befinden. Allerdings glaube ich nicht, dass dieses Interregnum bald zu Ende sein wird. Wir erleben überall, dass man sich der Idee souveräner Nationalstaaten oder souveräner postnationaler Konstellationen widmet. Und hier möchte ich das europäische Projekt und das nationalistische Projekt souveräner Nationalstaaten zusammenbringen, denn mir scheint, dass die Beschäftigung mit dem europäischen Gebilde immer noch an die Idee der Souveränität gebunden ist. Es geht immer noch darum, wer drin sein soll, wer draußen sein soll und wer die Regeln und die Lebensweise in Europa bestimmt.
Warum dies als Hintergrund für das Nachdenken über Mauern so wichtig ist, liegt zum Teil darin begründet, dass Mauern eine Reaktion auf die erodierende oder, wie ich es nenne, schwindende Souveränität in einer globalisierten Welt sind. Aber auch darin, dass wir die Angst, sich in einem Interregnum zu befinden, als Antrieb für eine gewisse Abwehrhaltung oder ein gewisses reaktionäres Gefühl in Bezug auf Eindringlinge oder Außenstehende verstehen müssen. Das ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Es geht nicht einfach darum: Wir haben zu viele dieser Migrant*innen. Der Globale Norden kann nicht alle verarmten oder kriegsgeplagten Flüchtlinge aufnehmen. Die Wechselfälle des Finanzkapitals, die Ströme und das Auf und Ab, das durch den Klimawandel hervorgerufen wird, die Kräfte in der Welt, die keine Rücksicht auf souveräne Nationalstaaten nehmen, machen Menschen unsicherer und lassen ihn sich mehr mit einer gewissen Prekarität identifizieren. Und mir scheint, dass dies ein Gefühl oder eine Erfahrung ist, die von den Rechten für reaktionäre Schutzmauerstrategien mobilisiert werden kann, aber auch von der Linken, um eine andere Welt zu schaffen. Ich denke, wir müssen verstehen, dass die schwindende Souveränität ein enormes Gefühl der Unsicherheit und der Angst bei Menschen aller Klassen und Ethnien hervorruft.
Welche Rolle spielen diese Affekte bei der Konstruktion zeitgenössischer Mauern?
Eine enorm wichtige. In den vergangenen zehn Jahren stellten wir das bei rechten politischen Bewegungen fest. Die Fähigkeit, Furcht, Unsicherheit, Angst zu erzeugen, nicht nur, ob die eigenen Kinder ein besseres Leben haben werden als man selbst, sondern auch, ob das eigene Leben stabil ist und ob es eine Zukunft gibt, auf die man hoffen kann. Wir können auch ethische Aspekte hinzufügen, die für den Bau von Mauern wichtig sind. Nimmt man all diese Faktoren zusammen, erhält man das Rezept für die Politik des Mauerbaus. All das kann mit der Idee »Lasst uns eine Mauer bauen, um die anderen draußen zu halten und um unseren materiellen Wohlstand zu sichern beantwortet werden. Und ich glaube, das ist einer der Gründe, warum Donald Trump Präsident geworden ist. Eine Mauer zu bauen war das Kernstück seines Wahlkampfes und nicht nur sein Mantra. Und er verstand etwas von den vertriebenen, unsicheren, unglücklichen kleinen Gefühlen – den Minderwertigkeitsgefühlen – im Kernland der USA.
Sie argumentieren also, dass keine der errichteten Mauern »funktioniert« und dass Mauern keine Konflikte verhindern.
Mauern haben es selten geschafft, Ströme zu stoppen. Wir können uns das fast physikalisch vorstellen. Wenn man eine Mauer in die Mitte eines Wasser- oder Sandstroms oder sonst etwas stellt, wird sich der Strom um die Mauer herum bewegen. Ich spreche von Warenströmen, Schmuggelware, Ideen, religiösen Überzeugungen, allen Arten von Strömen, die nicht einfach durch eine physische Mauer aufgehalten werden können. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass diese Ströme nicht nur flüssig sind, sondern dass die Mächte von heute, die durch Mauern aufgehalten werden sollen, auch nicht mehr die Mächte von früher sind. Es sind keine Armeen, die in eine Stadt im Südwesten Frankreichs marschieren. Die Kräfte des Militärs und die Kräfte des Kapitals sind heute flüchtig. Sie sind für das Auge nicht sichtbar, ob wir nun über Drohnen oder über das Finanzkapital sprechen. Und so sind Mauern ein seltsamer Rückfall in eine andere Zeit und eine andere Machtordnung. Aber sie haben diese wichtige symbolische Funktion, die darin besteht, dass sie so aussehen, als ob sie etwas aufhalten würden.
Mauern haben tatsächliche Auswirkungen und Konflikte werden durch sie oft sogar noch verschärft. Der Grenzzaun zwischen Israel und Palästina hat mit Sicherheit zur Verschärfung und Unlösbarkeit dieses Konflikts beigetragen, zumal er die Grenze Israels neu kartiert hat. Sie bewegt sich nicht entlang der tatsächlichen Grenze. Sie hat sich an zahlreichen Stellen in palästinensisches Gebiet eingegraben. Des Weiteren verstärken Mauern, wie vorher erläutert, das Entstehen krimineller Banden, Schmuggel, paramilitärischer Kräfte und so weiter, die jetzt Grenzen besetzen, die vielleicht vorher friedlicher gewesen wären. Dafür gibt es kein besseres Beispiel, als die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Die Mauer hat die Einreise von »Tagelöhnern«, welche abends nach der Arbeit in der Landwirtschaft wieder heimkehren, unmöglich gemacht, aber sie hat die Migration in eine gigantische, extrem gewalttätige und gefährliche Schmuggelindustrie verwandelt.
Es besteht allerdings ein gewisser Widerspruch zwischen dem kapitalistisch motivierten Wunsch nach billigen und ausbeutbaren Arbeitskräften und dem Bau von Mauern, um genau diese Migrant*innen fernzuhalten. Wie ist das zu erklären?
Es ist klar, dass das Kapital auf der ganzen Welt billige und ungelernte Arbeitskräfte will. Natürlich gibt es auch Migrant* innen mit einer enormen Anzahl von Fähigkeiten. Billige, ungelernte migrantische Arbeitskräfte werden fast immer im Globalen Norden gesucht. Der Globale Norden ist auf diese Arbeitskräfte angewiesen. Und jede*r, der oder die es mit der Arbeitsmigration ernst meint, weiß das und sagt das auch. In den USA wird fast die gesamte landwirtschaftliche Arbeit von Migrant*innen ohne Papiere ausgeübt, und die Farmer*innen und Rancher*innen gerieten in Panik bei der Vorstellung, dass Trumps Mauer tatsächlich funktionieren könnte. Doch das war nicht nötig, denn sie hat nicht funktioniert und wird es auch nie tun. Aber sie kann die Arbeit teurer machen. Es gibt immer einen Sog, nicht nur einen Druck. Und das ist Teil der Heuchelei des reaktionären Kapitalismus.
Welche Gegenkonzepte oder feministischen Ansätze gibt es zum Mauerbau?
Einwanderungspolitik ist kompliziert. Ich glaube nicht, dass Nationen des Globalen Nordens Einzelwege gehen können. Einwanderungspolitik erfordert sowohl einen globalen als auch einen lokalen Ansatz. Der globale Ansatz müsste darin bestehen, zu verstehen, dass die Ströme von Menschen und ihre Vertreibung durch wirtschaftliche Faktoren, wie Klimawandel, Krieg oder Gewalt – insbesondere postkolonialer Gewalt –, dass all diese Dinge die Verantwortung der Welt sind. Insbesondere auch die Verantwortung derjenigen, die historisch gesehen am meisten von der Welt und ihren Ressourcen profitiert haben. Das sind die ehemaligen Kolonialherren und die reichen Nationen. An den Grenzen sollten Verbindungen geschaffen werden, nicht nur zwischen den Menschen selbst, sondern auch bezüglich politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge. Was ich damit meine, ist, dass wir schützende Verbindungen schaffen müssen, um verzweifelten Menschen zu helfen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, und deren einzige Option darin besteht, Leib, Leben und Familie zu riskieren, um dort herauszukommen. Das Globale und das Lokale müssen Hand in Hand gehen. Aber gleichzeitig sind sie voneinander getrennt, weil man zum Beispiel herausfinden muss, was man in der Ägäis mit den Bootsladungen von Migrant*innen tun soll, die von der Türkei und anderen Nationen als politische Spielbälle in Bezug auf die EU-Politik eingesetzt werden.
Die Situation hat sich inzwischen verschlimmert. Und es ist wirklich wichtig herauszufinden, was man institutionell und praktisch tun kann, um Menschen, die ihre Heimat ursprünglich nicht verlassen wollten, aufzunehmen, unterzubringen, um- oder wieder anzusiedeln. Wir müssen uns, wenn wir über Einwanderung sprechen, bewusstmachen, an welchen Punkt ein Mensch gekommen sein muss, um seine Heimat zu verlassen. Was muss geschehen sein, damit ein Mensch sich mit oder ohne Familie an einen Ort begibt, von dem er weiß, dass er dort nicht willkommen ist und die Sprache nicht beherrscht? Ein Mensch tut das nur, wenn er keine anderen Möglichkeiten mehr hat. Wir sollten anfangen, Migration auf diese Weise zu betrachten und anerkennen, dass dies die verzweifelte, mittellose Situation von Migrant*innen und Asylbewerber*innen ist.
Feministische Sozialtheorie und feministischer Aktivismus haben uns einige der besten Methoden für dieses Gefühl der Fürsorge und Verbundenheit mit einer Gemeinschaft – für menschliches und nicht menschliches Leben – vermittelt. Eine Gemeinschaft, die man tatsächlich spüren kann. Man kann sich nicht kümmern und verbinden, ohne tatsächlich, Sorge zu leisten. In Verbindung mit Solidarität gegenüber allen Lebewesen auf der Welt ist diese feministische Vision seit Jahrzehnten Teil unserer Arbeit. Und sie reift weiter, da der Feminismus nicht nur durch die Sorge um Dinge wie Migration und Klimawandel geprägt wird. Ich glaube, sie reift auch weiter, weil sich unsere Wertschätzung von Fürsorge, Arbeit und Gemeinschaft weiterentwickelt.

True Size – wie groß ist die Welt wirklich?

Karten sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Auf unseren Handys begleiten sie uns überall hin. Und auch wie die Welt abgebildet wird, geben Karten vor. Doch was ist, wenn die Welt und die Dimensionen der Länder gar nicht so sind, wie wir dachten? Auf der Webseite true size wird per Drag and Drop erfahrbar gemacht, wie groß Länder im Verhältnis sind und wie wir sie auf unseren Karten darstellen.

»This Is Not an Atlas« Kollektiv Orangotango

Kritische Perspektiven auf die Welt schafft das Kollektiv Orangotango, ein Netzwerk kritischer Geograph*innen, die sich mit Fragen zu Raum, Macht und Widerstand beschäftigen. Ihr 2018 im transcript Verlag erschienenes faszinierendes Buch »This Is Not an Atlas« versammelt mehr als 40 Gegenkartografien aus der ganzen Welt. Die Sammlung zeigt, wie Karten als Teil des politischen Kampfes, für kritische Forschung oder in Kunst und Bildung erstellt und umgestaltet werden.
Als commons (*gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen unterschiedlicher Art) kann das Buch auf der Webseite von Orangotango heruntergeladen werden:

»Mauern sortierend« Hilde Domin

Mauern sortierend


Kataloge von Blumenzwiebeln


Stoffmuster


Muster


von Mauern.


Die chinesische Mauer


aus Porzellan.


Mauern von Avila


ihre Tore


die kleinen Hufe der Getreideesel.


Die türelosen Mauern


für Hektor


und die Paßlosen.


Gartenmauern.


Mauern aus Menschenfleisch.


Mutter


Mauer


zwischen Geschwistern


jeder auf seiner Seite


Berlin


Unsichtbare Mauer


steiler


härter


länger


die Mauer aus Rücken

Hilde Domen: Ich will dich. Gedichte. S. Fischer Verlag 1995.

Stab

Tommy Hetzel
Konzept & Stückentwicklung: what about: fuego
Regie: María F. Giacaman
Text: María F. Giacaman • Miriam Bini Schmidt
Szenografie & Kostüme: Linda Bühlmann
Outside Eye: Miriam Bini Schmidt
Licht- & Videodesign: Friederike Hänsel
Sounddesign: Juan Giacaman
REGIEASSISTENZ: Claus Nicolai Six • BÜHNENBILDASSISTENZ: Aline Larroque • KOSTÜMASSISTENZ: Hannah Fraune • INSPIZIENZ: Charlotte Bischoff • SOUFFLAGE: Sterica Rein • REGIEHOSPITANZ: Tim Sellien • BÜHNENBILDHOSPITANZ: Lilly Ann Welsch • BÜHNENTECHNIK: Simon Graf, Bernd Kierblewsky • BELEUCHTUNGSEINRICHTUNG: Manfred Breuer & Frédéric Dériaz • TONTECHNIK: Holger Brochhaus & Julia Spang • VIDEO: Jörg Follert & Torsten Döring • PRODUKTIONSLEITUNG: Oliver Haas, Petra Möhle & Alexander Kempe • STELLVERTR. LTG. WERKSTÄTTEN: Ilya Pfaller • DEKORATIONSAUSFÜHRUNG: Martin Arenz, Florian Hohenkamp, Frank Hohmann, Boris Thelen, Daniel Vogt & Wencke Wesemann • KOSTÜMAUSFÜHRUNG: Elisabeth Schlücker & Sabine Reschke • SCHUHMACHEREI: Katrin Mikoleiczik • KOSTÜMMALEREI: Gudrun Fuchs & Marja Adade • ANKLEIDER*INNEN: Philipp Ebert, Martina Pütz & Mariangela La Vergata • MASKENBILD: Katya Schmidt • REQUISITE / EFFEKTE: Kaja Manenbach & Jörg Schneider