Ode

Foto: Krafft Angerer
von Thomas Melle
SCHAUSPIEL
Depot 2
Dauer:
2 Stunden 15 Minuten • Keine Pause
Uraufführung
der Fassung 2021:
17. September 2021

Trailer
Die Kunstfreiheit ist im Grundgesetz verankert. Dennoch ist sie umstritten und wird permanent hinterfragt: »Darf« Kunst alles? Wer kann für wen sprechen? Muss Kunst sich positionieren? Während von Rechts Brauchtumspflege und Nationalkultur gefordert wird, eskalieren auf der anderen Seite und in der Mitte der Gesellschaft die Debatten um Identitätspolitik.
Der Romanautor und Dramatiker Thomas Melle fängt in seinem Stück ODE die verschiedenen Stimmen ein und schafft mit abgründigem Witz Situationen, die das Dilemma der Kunstschaffenden genauso zeigen wie die Hitzigkeit der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: Da ist die Großkünstlerin, die lautstarke Meute, die Uneindeutigkeit in der Kunst als unerträgliche Zumutung empfindet und der Regisseur, der sich mit der Forderung konfrontiert sieht, nur noch das darzustellen, was er selbst erlebt hat.
Widersprüchlich, unideologisch und sehr komisch entsteht mit ODE ein Stimmungsbild unserer Gesellschaft und eine Liebeserklärung an die Kunst. ODE wurde 2019 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. Für das Schauspiel Köln verfasst Thomas Melle ein Update und bezieht die gegenwärtige Situation mit ein: Wie systemrelevant ist Kunst?
Kostüm: Maria Roers
Video: Nazgol Emami
Dramaturgie: Sibylle Dudek

Gewinner des Nachspielpreises beim Heidelberger Stückemarkt 2022 • eingeladen zu den Autor*innen­theatertagen 2023

Pressestimmen
»Melles »Ode« scheint das Stück der Stunde, wird hier doch alles verhandelt, was derzeit auf der kulturpolitischen Agenda steht.«
»Die just zum Ensemble gestoßenen Jungschauspieler Paul Basonga, Kei Muramoto und vor allem Rebecca Lindauer – ein zukünftiger Star – bringen aber noch mal eine Extraportion Energie mit, schließlich geht es ja auch um einen Generationenkonflikt.«
Im Gespräch mit Jörg Scheller

»Das Dazwischen muss man stärken.«

Thomas Melles Stück ODE, das im September erfolgreich Premiere feierte, greift viel diskutierte und brisante gesellschaftliche Themen auf: die Diskussionen um Kunstfreiheit und Identitätspolitik. Auch Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte, Musiker und zertifizierter Fitnesstrainer, hat sich mit seinem kürzlich erschienenen Essay IDENTITÄT IM ZWIELICHT mit diesen Zusammenhängen beschäftigt. Ein Gespräch über das Denken in Kategorien, Gerechtigkeit und die Kraft der Imagination.
2019 war die Uraufführung der ersten Fassung von ODE am Deutschen Theater Berlin. Zu dieser Zeit kam es immer wieder zu Störungen von Kulturveranstaltungen – auch Theaterabenden – durch die rechte Identitäre Bewegung. Jetzt, zwei Jahre später, ist vor allem von Identitätspolitik von Links die Rede. Was genau ist darunter zu verstehen, und warum ist sie so allgegenwärtig?
Identitätspolitik von Links ist eigentlich ein Konzept der 70er Jahre, als in den USA Gruppen, die bislang unterrepräsentiert waren, begonnen haben, strategisch auf sich aufmerksam zu machen. Die Überlegung war: Wir haben keinen Platz in der Mehrheitsgesellschaft, man spricht nicht adäquat für uns. Also müssen wir für uns selbst sprechen lernen. Sie haben selbst das Wort ergriffen und begonnen, sich zu definieren, anstatt sich durch andere definieren zu lassen. Und sie haben etwas eingeführt, was sie „strategischen Essenzialismus“ nannten. Dahinter steht die Idee: Wir wissen, dass Identität eigentlich keine Essenz ist, also nichts Ahistorisches, nichts Unveränderliches. Aber um Macht zu erlangen, um einen Teil vom Kuchen abzubekommen, müssen wir unsere Identität bis zu einem gewissen Grad auf eine Essenz bringen – als schwarze, lesbische Frauen beispielsweise. Das ist Identitätspolitik von Links. Sie speist sich aus dem Aktivismus von Minderheiten, die sich in der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt fühlen, respektive ganz konkret benachteiligt sind. Und diese Form von Identitätspolitik hat in den letzten Jahrzehnten einen Marsch durch die Institutionen angetreten und hat mittlerweile eine große Lobby. Das zeigt sich in Institutionen, die Diversity Beauftragte einstellen, in Konzernen, die sehr stark betonen, dass sie von Minderheiten profitieren bis hin zur Bildungspolitik, den Medien etc.
Und die Identitätspolitik von oben? Männer sind im dramatischen Kanon beispielsweise viel mehr repräsentiert als Frauen. Menschen mit Behinderung sind auf der Bühne nur sehr selten zu sehen… Ist das nicht auch Identitätspolitik?
Man kann da differenzieren zwischen impliziter und expliziter Identitätspolitik. Implizite Identitätspolitik ist so alt wie die Welt. Das geht auf Tribalismus, Stammesdenken, Gruppendenken – die und wir – zurück.
Und natürlich haben Männer – ganz wichtig: nicht alle Männer, sondern ein bestimmter Typus Mann – Identitätspolitik betrieben. Die bestand beispielsweise darin, dass zuerst die Männer wählen durften, Frauen nicht. Wobei es auch da Männer gab, die keine Wahl hatten – beispielsweise was den Kriegsdienst betrifft. Sie konnten jederzeit von einem anderen Mann als Kanonenfutter verwendet werden. Unsere identitätspolitischen Kategorien müssen noch viel präziser sein, sonst können sie der Komplexität der Realität nicht gerecht werden.
Ich würde daher dafür plädieren, Intersektionalität als Analyse-Instrument noch viel weiter zu denken – was sich überschneidende und überlagernde Diskriminierung betrifft.
Es wird dann interessant, wenn wir parallel zur Diskriminierung auch Bevorteilung einbeziehen, also zum Beispiel: Hautfarbe und Kontostand. Körperliches Vermögen, Behinderungen, Elternhaus, Religion – all das sind Faktoren.
Sie betrachten in ihrem Buch Identitätspolitik differenziert. Was sind die positiven Aspekte von Identitätspolitik, wie wir sie gerade erleben?
Identitätspolitik macht ungerecht verteilte Macht sichtbar. Und dass Gruppen, die im Politischen, im Juristischen, im Sozialen marginalisiert sind, nach mehr Macht streben, kann man diesen Gruppen schlicht und ergreifend nicht vorwerfen.
Es ist aber ein zweischneidiges Schwert. Die Kategorien, die ich zum eigenen Machtgewinn aufstelle, können eine Eigendynamik entwickeln und von anderen aufgegriffen, instrumentalisiert und gegeneinander ausgespielt werden. Darüber hat man schlichtweg keine Kontrolle.
Im Stück von Thomas Melle gibt es einen Monolog, in dem ähnlich argumentiert wird: dass das Denken in Kategorien eine rechte Logik bestätigt und letztlich Zuschreibungen festigt.
Menschen zu labeln, zu etikettieren, zu klassifizieren und zu markieren kann auf der einen Seite im links progressiven Sinne gebraucht werden, aber es ist natürlich auch ein Instrument der Rechten. Wenn die einen beginnen, ihre Identitäten zu manifestieren und zu propagieren, dann tun es die anderen auch als Gegenreaktion.
Als Reaktion auf Rassismuserfahrungen und auch als Mittel von Empowerment gibt es Forderungen, Save Spaces, diskriminierungsfreie Räume, zu etablieren. Die Soziologin und Künstlerin Natascha A. Kelly und andere Schwarze Theaterschaffende plädierten für ein »Theater für Schwarze Kunst und Kultur«. Könnten das notwendige Zwischenschritte sein, um am Ende zu dem Ziel zu kommen, dass alle Räume für alle gleich zugänglich sind und jede/r in jede Rolle schlüpfen kann?
Meiner Meinung nach ist das nicht der richtige Weg. Wir sehen in der Geschichte, dass sich solche Strukturen, sind sie erst mal geschaffen, verstetigen. Der Anspruch sollte sein, Diversität innerhalb einer Institution oder einer Öffentlichkeit zu gewährleisten. Ich würde auch sagen, da sind wir auf einem viel besseren Weg gerade, als wir es lange Zeit waren. Natürlich und auch verständlich sind die Schritte, die wir machen, für manche zu klein. Revolutionäre Temperamente würden jetzt sagen: Wir müssen vorpreschen, jetzt Nägel mit Köpfen machen. Ich würde eher sagen: Nachhaltige Entwicklungen sind meistens etwas langsamer und dann ist das Ergebnis belastbarer. Das Revolutionäre hat immer Konservatismus und neue Ausschlüsse produziert. Anders finde ich ist es, wenn so etwas nicht in geförderten Institutionen, sondern in der Popkultur entsteht. Da ist es völlig normal, dass es Bands mit ausschließlich Schwarzen Mitgliedern gibt – aber die sind nicht kuratiert, quotiert, reguliert. Sie entstehen frei. Überhaupt finde ich, wir sollten mehr von der Popkultur lernen. Ich bin ein großer Fan von ICE T. Er hat mit Body Count in den 90er Jahren diese angeblich inkompatiblen Kulturen von Rap und Metal zusammengebracht. Auf seinen Konzerten waren white Kids, black Kids, everything in between. Und sie hatten einen gemeinsamen Bezugsrahmen.
Was könnten ganz konkrete Maßnahmen sein, die zu mehr Diversität führen? Das Theatertreffen hat beispielsweise eine Quote eingeführt: Die Hälfte der Inszenierungen sind nun von Frauen. Und das gibt wiederum Impulse in die Theaterszene, dass mehr Frauen als Regisseurinnen engagiert werden.
Ich glaube, dass man bei der Quotierung am falschen Ende anfängt. Für Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit müsste man ganz früh im Leben der Menschen ansetzen. Das bedeutet ganz intensive frühkindliche Förderung. In der Schweiz gibt es eine Kindergartenpflicht, was gar nicht übel ist, weil dann diese elterliche Willkür oder einfach das Pech, in arme oder weniger gebildete Haushalte geboren zu sein ist, gemindert wird. Quotierungen ziehen einen Rattenschwanz an Kollateral-Wirkungen mit sich. Wenn es eine Frauenquote gibt, kommt der Ruf nach einer Quote für Migranten. Dann wird man sicher erleben, dass Rechte sagen: Sorry, in eurer Institution arbeiten gar keine Konservativen. Wir brauchen jetzt Rechtskonservative in den Institutionen. Im Hinblick auf das Beispiel mit dem Theatertreffen würde ich ganz anders argumentieren. Ich würde sagen: Wir haben bislang übersehen oder ausgeblendet oder wirklich willentlich ignoriert, dass in der Gruppe X Exzellentes produziert wird. Und wir holen das jetzt nach, uns das anzuschauen. Uns geht es darum, das wahrzunehmen, das sichtbar zu machen, das zu diskutieren. Aber nicht aufgrund von Geschlecht oder Hautfarbe.
Menschen nach ihrer Identität zu kuratieren, finde ich implizit herabwürdigend. Ein Beispiel: Ich habe mich viel mit dem Autor Selim Özdoğan beschäftigt. Da heißt es dann oft: er sei eine wichtige Stimme der deutschtürkischen Minderheit. Er selbst möchte nicht auf seine migrantische und deutschtürkische Geschichte reduziert werden. Er ist Schriftsteller und seine Texte sollen ernst genommen werden, auch für sich als autonome Artefakte.
Für mich ist immer die Frage: »Entspringt das Interesse einer echten Neugier, einer Menschenliebe, einer Offenheit oder entspringt es einem instrumentellen Denken?
Im Stück wird die Präsentation eines Kunstwerkes gezeigt. Die Besucher*innen sind erwartungsvoll, bereit zu überschwänglichen Lobeshymnen, aber auch zur totalen Vernichtung. Es wird zur Zeit viel über »Cancel Culture« gesprochen. Wie erleben Sie das: Hat eine gewisse Gnadenlosigkeit im Umgang miteinander zugenommen?
Viele der Themen, die diskutiert werden, haben den Schutzraum des universitären, akademischen Diskurses verlassen und sind in dieser hybriden Medienöffentlichkeit und der politischen Öffentlichkeit angekommen. Und da geht man natürlich ganz anders damit um. Da geht's nicht mehr um das Analytische und ums Verstehen, ums Kontextualisieren, sondern da geht es um einen instrumentalisierenden Umgang damit. Und entsprechend geht es dann rauer und härter zu. Ich glaube, dass Gesellschaften, die keine Räume haben, in denen spielerisch diskutiert werden kann, in denen alles zum Machtkampf wird, grausame Gesellschaften sind. In den Theatern, den Museen und den Hochschulen sind die Diskurse härter geworden.
Es gibt eine gewisse Unversöhnlichkeit zwischen Lagern, die aber, so meine Wahrnehmung, eigentlich größtenteils konstruiert ist. Man richtet sich oft nach Extremfällen aus, reduziert das Gegenüber auf das Schlimmstmögliche. Ich persönlich arbeite mit Feministinnen, Queeren, Heteros, Konservativen und Liberalen, Religiösen wie auch Agnostikern gut und gerne zusammen. Meine Erfahrung ist, dass es zwischen den Extrempositionen eine wahnsinnige Bandbreite gibt. Das Dazwischen muss man stärken, um dieser unproduktiven, nicht konstruktiven Polarisierung und Verhärtung entgegenzuwirken.
Und wenn wir Diversität ernst nehmen, dann gehört eben auch dazu, dass da Leute und Gruppen sind, die wir wirklich nicht mögen, mit denen man aber trotzdem irgendwie interagieren muss. Damit meine ich nicht Extremisten. Bestimmte Leute gehören ausgegrenzt. Aber unterhalb dieser Schwelle, da wird es dann interessant, wenn die Dinge zwielichtig werden.
In ODE gibt es eine Situation, in der ein Regisseur mittleren Alters mit den »guten alten Theatermitteln« eine Vergewaltigungs-Szene darstellen will. Die Theatergruppe stellt sich gegen ihn. Sie wollen diesen Weg, der selbst Diskriminierung produziert, nicht mehr mitgehen. Die Argumente sind sehr schlüssig. Das Ergebnis ist dann, dass nur noch einer spielt – nämlich der Regisseur – und die anderen nicht mehr.
Das ist das Problem. Es gibt die Intentionen auf der einen Seite – und die sind moralisch gut. Ich würde mich diesen Intentionen anschließen. Der Punkt ist nur: Intention ist nicht der Outcome. Mein Eindruck ist, dass die heutige Linke nicht mehr dialektisch ist, die Paradoxien der Wirkung gegenüber dem Wollen nicht bedenkt. Zurzeit bewegen wir uns sehr stark auf der Ebene der Intentionen und der Moral und glauben, dass wenn wir das Richtige wollen, auch das richtige Ergebnis produzieren. Aber dem ist natürlich nicht so. Wir leben in einer schmutzigen, komplexen und widersprüchlichen Realität. Das Ziel wäre – mit Adorno zu sprechen – dass alle ohne Angst verschieden sein können. Dafür müssen wir aber dialektischer denken und handeln. Statt zu sagen: »Das ist richtig und das ist falsch«, müssten wir gemeinsam in Situationen daran arbeiten, sie durchdenken und imaginieren: Was könnte denn passieren, wenn wir es so machen oder so. Oder wenn wir es nicht machen. Sonst machen wir uns in dieser vielfältigen komplexen Welt handlungsunfähig.
Das letzte Kapitel Ihres Buches ist ein Plädoyer für mehr Imagination. »Sie schreiben: Ohne das Vermögen der Imagination ist die gerechte, offene Gesellschaft zum Scheitern verurteilt.« In ODE tritt zum Ende des Stücks ein Wesen namens Präzisa auf, das eine ganz ähnliche Position vertritt – für die Uneindeutigkeit und Zweckfreiheit der Kunst.
Ich knüpfte an den Philosophen John Rawls an und an seine Theorie der Gerechtigkeit. Und was mich daran einfach immer sehr überzeugt hat, ist, dass Rawls sagt: Wenn wir Gerechtigkeit erreichen wollen, dann müssen wir uns selbst bis zu einem gewissen Grad verlieren können. Wir müssen vergessen, wer wir sind. Und zwar im konkreten Sinne, welchen Beruf wir haben, welches Geschlecht wir haben. Und erst wenn es uns gelingt, Gerechtigkeit eigentlich auch unabhängig von diesen Faktoren zu denken, dann wird Gerechtigkeit im breiteren Sinne überhaupt denkbar. Auch da würde ich immer als Fußnote hinzufügen: Die Verantwortung liegt bei denen, die besser gestellt sind und die mehr Glück im Leben hatten, diesen Zustand zu erreichen.Man kann das nicht von denen erwarten, die schlechter gestellt sind und ihnen sagen: »Ja, seht doch mal von euch selber ab und entwickelt universelle Gerechtigkeitsprinzipien.«
Wenn das also gegeben ist, würde ich sagen, dass die Kunst, und zwar die nicht instrumentelle Kunst, also die nicht aktivistische oder nicht parteipolitisch ideologisch gebundene Kunst, doch noch immer der Raum ist, wo am ehesten eine Auseinandersetzung auf eine spielerische Art und Weise geschehen kann. Wo auch Dinge gesagt werden können, die in der politischen Sphäre sanktioniert würden.
Wo Identitäten keine Begrenzungen sind, sondern »anprobiert« werden können?
Ja. Wenn ich Identitäten zementiere und klassifiziere, kann ich sie aufeinanderstapeln und ordnen – wie Legosteine. Mehr passiert da dann aber auch nicht. Mein Anspruch wäre aber, dass andere Formen von Verzahnungen, Überlappungen, Übergängen und Diffusion stattfinden. Und da kommt die Imagination ins Spiel.