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PROGRAMMHEFT

OBLOMOW REVISITED

frei nach Iwan Gontscharows Roman OBLOMOW •
in einer Überschreibung von Nele Stuhler

Uraufführung:
11 Nov 2021

»Also worum es heute geht: Wir wollen hier nichts tun.«
Nele Stuhler

INHALTSVERZEICHNIS

ZUM STÜCK

Der Roman OBLOMOW machte Iwan Gontscharow 1859 über Nacht berühmt. Hatte der Autor bis dahin stets im Schatten seiner Zeitgenossen Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski geschrieben, diskutierte nun ganz Russland über das Buch und fühlte sich unangenehm ertappt: Hatte Gontscharow die Lethargie der russischen Gesellschaft im Zarismus aufzeigen oder gar Kritik an der wohlsituierten Oberschicht üben wollen? Immerhin wurde eine ganze Lebenshaltung, die »Oblomowerei«, nach Erscheinen des Romans zum Inbegriff des gelangweilten Müßiggangs.
Über 600 Seiten umfasst der Roman, dem häufig vorgeworfen wird, in zu vielen Zeilen zu wenig zu erzählen. Vom unaufgeregten Nichtstun eben. Mit nur 32 Jahren befindet sich der Sohn eines Gutsbesitzers, Oblomow, bereits im Ruhestand. Er versinkt im Schlafrock auf dem Diwan in Tagträumen und zeichnet sich durch Untätigkeit aus. Er nimmt an kaum etwas Anteil, während sein Gut verwahrlost und seine Schulden sich mehren. Auch sein treuer Diener Sachar vermag es nicht, ihn zu motivieren. Als sein Jugendfreund Stolz, ein ehrgeiziger Geschäftsmann, es schafft, Oblomow kurzzeitig aus der Lethargie herauszureißen, verliebt er sich in Olga - um doch zu erkennen, dass selbst die Liebe nicht stark genug ist, ihn vom Diwan zu lösen und sein Leben in die Hand zu nehmen. Bis er letztlich stirbt.
Es wäre zu kurz gedacht, in der Titelfigur den reinen Faulpelz zu sehen. In ihm steckt ein anarchisches, widerständiges Potenzial, den normierten Alltag zu verweigern. Mit einer unbeirrbaren, fast bewundernswerten Beharrlichkeit zieht er seine Verweigerung durch, lässt die Leser*innen darüber nachdenken, ob die Charaktereigenschaft Faulheit tatsächlich ausschließlich negativ konnotiert sein muss oder man dem tabuisierten Stubenhockertum auch etwas Positives abringen kann.
Leistungsgesellschaft am Limit
In der heutigen Leistungsgesellschaft und einer Zeit des überschnellen Tempos bietet der Roman eine neue Lesart an. Denn Nichtstun ist schwierig; das weiß jede*r, der/die schon einmal versucht hat, einfach dazuliegen und an nichts zu denken. Nichts zu tun gilt gemeinhin als faul, dabei belegen Studien, dass die unproduktive Zeit häufig die kreativste ist.
Im November 2020 sorgte ein Videoclip der Bundesregierung für Aufsehen. Unter dem Hashtag #besonderehelden rief die Politik dazu auf, »faul wie Waschbären« zu sein und die »Couch zur Front« umzufunktionieren. Die Botschaft war klar: Heroisch ist, wer zu Hause bleibt. Geschmacklos oder lustiger Gag? Darüber diskutierte die Öffentlichkeit kontrovers. Das Narrativ der Nein-Sagenden, der Verweigernden oder Untätigen ist in der Literatur häufig anzutreffen, denkt man beispielsweise an Melvilles BARTLEBY, DER SCHREIBER, Thoreaus WALDEN oder Moshfeghs MEIN JAHR DER RUHE UND ENTSPANNUNG. Sogar Christus lehrte in seiner Bergpredigt die Faulheit: »Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht...«
Weltweit gibt es unterschiedliche Formen dieses Aussteigertums.Einige davon haben sicherlich weniger mit einer positiven selbst gewählten Lebensführung unseres Oblomows zu tun, sondern können auch besorgniserregende Ausmaße annehmen und zu psychischen Krankheiten führen. Nicht selten mündet soziale Isolation, emotionale Teilnahmslosigkeit und Antriebslosigkeit in Depressionen. Oblomow hingegen leidet eher weniger unter seiner Verweigerung, sicherlich auch, weil er sich finanziell leisten kann, nichts zu tun. Doch der Grat dazwischen ist oftmals schmal. In den 1980ern wurde der Begriff des »Cocooning«, also sich »verpuppen« oder »sich einspinnen« populär - ein Trend, sich vermehrt aus der Öffentlichkeit in das häusliche Privatleben zurückzuziehen. Anfang der 2000 Jahre löste »Homing« das »Cocooning« ab. Anders als beim »Cocooning« werden soziale Kontakte weiter gepflegt, aber hauptsächlich in den häuslichen Bereich verlagert. Beide Begriffe erlebten während der Pandemie ein Comeback, wurden teils als populäre Wohntrends umgedeutet. »Hikikomori« hingegen ist die wahrscheinlich bekannteste und drastischste Rückzugsform. Menschen igeln sich für mindestens sechs Monate oder für mehrere Jahre in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer ein, beendenhäufig den Kontakt zu anderen Menschen völlig.
Diese Lebensform hat ihre Ursprünge üblicherweise bei Schulverweiger*innen. Derzeit leben laut Gesundheitsministerium etwa eine Millionen Hikikomori in Japan.
In Deutschland initiierte der Architekt und Designtheoretiker Friedrich Borries 2020 im Rahmen des Projekts »Schule der Folgenlosigkeit« der Hfbk Hamburg ein Stipendium über 1600 Euro, um sich im Nichtstun und Verzicht zu üben.
ÜBER DIE KRITISCHE BEFRAGUNG DES EIGENEN ARBEITSORTES
Luk Perceval und Nele Stuhler übertragen den Roman in die Gegenwart, nutzen ihn als lose Folie und suchen nach Parallelen zu unser aller Lebensrealität während des Lockdowns. Sie interessieren sich für diejenigen, die nach dieser herausfordernden Zeit nicht so einfach zurück in den (Berufs-) Alltag finden können oder wollen.
Gleichzeitig zeigen sie auf, was die Grundsätze des Romans erzählen, wenn sie auf den Theaterbetrieb übertragen werden. Wirft man die Frage auf, wofür wir all das tun, was wir tun, stößt man auf unterschiedliche Antworten. Aber wer »darf« eigentlich wann aussteigen? Wieso investieren Theaterschaffende so viel in den Beruf, bei dem Nichtstun häufig zu kurz kommt? Was geschieht mit Nein-Sagenden, die das Spiel nicht mehr mitspielen und dem System, wenn eine Person herausfällt?

HYBRIDES EXPERIMENT MIT
UNGEKLÄRTEM AUSGANG

Die deutschsprachige Theaterlandschaft hat sich, vornehmlich bedingt durch die Corona Pandemie, im letzten Jahr vermehrt dem digitalen Raum geöffnet. Es wurden ganz unterschiedliche virtuelle Spielräume geschaffen, in denen Erfolgserlebnisse und Scheitern gleichermaßen möglich waren. Blickt man jedoch auf die Spielpläne der Spielzeit 21/22 so scheinen einige Theater die Lernprozesse aus der Auseinandersetzung mit der Digitalität hinter die analogen Produktionen zurückzustellen. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein. Aber es wäre doch schade, die neuen Erfahrungen gänzlich der Coronazeit zuzuschreiben, um dem überholten Narrativ des Theaters als »letzte analoge Bastion« nun endlich wieder gerecht werden zu dürfen.

Luk Perceval hat sich in der Vorbereitung zu OBLOMOW REVISITED die Frage gestellt, wie man ein Theaterprojekt multimedial aufgleisen kann, um die neuen digitalen Mittel weiterhin zu nutzen. Entstanden ist ein multiperspektivisches Theaterprojekt, das aus drei Teilen besteht: 1.) Einem Twitch-Kanal der Schauspielerin Luana Velis 2.) einem Blog und Instagram Kanal 3.) einer hybriden Abschlussveranstaltung. Die ersten beiden Teile wurden bereits zu Probenbeginn erstellt, um den Arbeitsprozess sichtbar zu machen. Betrachten Sie also bitte die Narration über die gesamte Produktionszeit hinweg, eine klassische Premiere im Sinne eines »Endprodukts« gibt es nicht.
TWITCH UND THEATER - EIN ANDERES PUBLIKUM?
Twitch besuchen täglich 17,5 Millionen Menschen weltweit. Das Live-Streaming-Videoportal wurde 2011 gegründet und wird vorrangig zur Übertragung von Videospielen genutzt. Während der Pandemie begannen Streamer*innen vermehrt, ihr Privatleben in den eigenen vier Wänden zu filmen. Tausende gucken über mehrere Stunden beim Wäsche waschen, Kochen, Gartenarbeit, Heimwerken, Schlafen etc. zu. Oder wollen sich einfach nur mitteilen. Der Streamer GPHustla ist seit über 450 Tagen live. Menschen verfolgen ihn tagsüber beim Zocken und nachts beim Schlafen. Sein Geld verdient er mit Werbeanzeigen.Percevals Anliegen ist, Theater auch für ein Publikum zugänglich zu machen, das normalerweise nicht ins Theater geht. Das ist bei diesem Projekt dank Twitch gelungen. Mithilfe des Live-Chats sind wir mit den Zuschauer*innen in einen interaktiven Austausch gekommen, haben erfahren, wieso Menschen nicht mehr ins Theater gehen. Auch wenn viele Zuschauer*innen nicht zum klassisches Theaterpublikum gehörten, so haben sie an den inhaltlichen Themen von OBLOMOW REVISITED angedockt; sich Gedanken über das Verhältnis zu ihrem eigenen Beruf, der zu kurz kommenden Freizeit oder der Tabuisierung der Faulheit gemacht. Der Wunsch nach Austausch war da: Der Instagram Account erhielt nach fast jedem Stream Post. Die Zuschauer*innenzahl variierte während unserer Live-Streams zwischen 20 und 8.000. Es hat sich eine Community gebildet, die Luana Velis’ Streams wie eine Serie verfolgt hat, die Neuankömmlinge im Chat inhaltlich abholte und erklärte, »was zuvor geschah«.

ZUR AUTORIN

Bereits das Vorhaben, ein Stück über das Nichtstun zu schreiben ist eine paradoxe Angelegenheit. Gontscharow brauchte dafür ca. 10 Jahre. Nele Stuhler um ein Vielfaches weniger. Wie erfindet man Figuren, die auf der Bühne einfach nichts tun - an einem Ort, der für Unterhaltung ausgelegt ist? »Oblomow ist ein sehr dickes Buch. Und es geht ums Nichtstun. Also es geht auch mal zwischendurch um Liebe aber eigentlich geht’s ums Nichtstun. Aber auf der anderen Seite ist das hier ja ein Ort, wo ein paar Leute was machen, damit viele Leute nichts machen können«, so ein Zitat aus Nele Stuhler Überschreibung.
1989 in Osterburg (Altmark) geboren, wuchs die Autorin in Berlin auf bevor sie in Berlin, Gießen und Zürich Angewandte Theaterwissenschaft und Regie studierte. Zudem absolvierte sie den Lehrgang FORUM TEXT von uniT Graz. Stuhler arbeitet nicht nur als Autorin, sondern auch als Regisseurin und Performerin. Das tut sie mal alleine und mal mit anderen gemeinsam, z.B. der Theatergruppe FUX und als Regie/Textduo Stuhler/Koslowski.
In ihrem Buch KEINE AHNUNG beschäftigt sie sich mit dem Nicht-Wissen, einer normalerweise peinlichen Angelegenheit, die man dringlichst versucht, zu verheimlichen. Doch ihr Buch bekennt sich auf selbst reflektierenden Art und Weise zur Ahnungslosigkeit über Politik, Political Correctness, Ernährung, Bügeln und vielem mehr.
Kürzlich wurde ihr Theaterstück GAIA GOOGELT NICHT im Rahmen der Autor*innentheatertage als szenische Lesung präsentiert und im Sommer 2021 zur Uraufführung am Deutschen Theater Berlin gebracht. Zur Zeit ist sie Teilnehmerin der ersten Mülheimer Stücke Werkstatt.
»Heute haben es wieder Millionen nicht hingekriegt. Und das könnte doch eine Stillstandung sein. Also das Gegenteil von einer Bewegung sozusagen. Eine gemeinsame Stillstandung.«
Nele Stuhler

OBLOMOWA TUNES

Die Spotify Playlist für Faulenzer*innen
Ob Tocotronics SAG ALLES AB oder oder Bruno Mars’ THE LAZY SONG: Die Geschmäcker der Produktion Beteiligten sind vielfältig. Was wir während der Proben gehört haben, finden Sie hier.

IN DER ISOLATION TANZT DER
SCHLAFRHYTHMUS LEICHT AUS DER REIHE

Ob »Homing«, »Cocooning« oder »Hikikomori«: Weltweit hat das Phänomen des zu Hause Bleibenden unterschiedliche Ausformungen. 1998 prägte der japanische Psychologe Tamaki Saitō, den Begriff Hikikomori. Das Gesundheitsministerium versteht darunter mittlerweile Personen, die sich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten zu Hause isolieren und sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Ein Interview mit dem Japaner Nito Souj, der sich seit 10 Jahren in Isolation befindet.
»Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.«
Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit

FAULHEIT. TODSÜNDE ODER TUGEND?

​Der Philosoph André Rauch betrachtet die Faulheit aus verschiedenen Blickwinkeln und zeigt auf, wie sich das Denken über Faulheit über die Jahrhunderte verändert hat. Dabei wirft der heutige Blick auf diese Eigenschaft besondere Kontroversen auf.
»Wer ist man ohne Arbeit? Was sollte man denn sagen, wenn jemand fragt, was man so macht.«
Nele Stuhler

Stab

KOSTÜME: ILSE VANDENBUSSCHE
Licht: JAN STEINFATT
Video: KRZYSZTOF HONOWSKI
VIDEO-ASSISTENZ: LUIS NEUENHOFER
INTERAKTIVES STORYTELLING: ROMAN SENKL
DRAMATURGIE: Lea Goebel